Orgel: Halle (Saale) / Altstadt – Marktkirche Unserer Lieben Frau (Reichel-Orgel)
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Gebäude oder Kirche
Marktkirche Unserer Lieben FrauKonfession
EvangelischOrt
Halle (Saale) / AltstadtPostleitzahl
06108Bundesland / Kanton
Sachsen-AnhaltLand
DeutschlandBildergalerie + Videos
Johannes Richter spielt Georg Böhm (1661 – 1733) – Partita „Ach wie nichtig, ach wie flüchtig“
Bildrechte: Datenschutz
Orgelgeschichte
1663/64 Neubau einer hinterspieligen mechanischen Schleifladenorgel I/6 ohne Pedal durch Georg Reichel.
Um 1750 Reparatur, Änderung der Stimmung.
19. Jahrhundert weitere Reparaturen der Orgel.
Um 1900 fällt das Instrument in einen Dornröschenschlaf.
1930er Jahre Planungen für eine Restaurierung/Herrichtung des unspielbaren Werkes, im Gespräch ist u.a. die Firma Kemper. Marktkirchenorganist und Orgelrevisor O. Rebling insistiert vehement gegen jene Firma und wird mit den Worten „Entweder saniert Rühlmann die Orgel, oder keiner!“ zitiert. [Anm. d. Autors: Rühlmann erbaute die von Rebling sehr geschätzte große Orgel in der Marktkirche, auch über andere Instrumente der Firma (Lutherkirche) äußerte sich Rebling sehr positiv.].
1971/72 umfassende Sanierung/Spielbarmachung durch Alexander Schuke Orgelbau Potsdam, dabei wurde die ursprüngliche Tonhöhe und die mitteltönige Stimmung wiederhergestellt.
2009 Reparatur und Überholung sowie Reinigung durch Wegscheider Orgelbau anlässlich des Händel-Jubiläums.
2021 wegen Bauarbeiten im Chorraum (Gewölbe und Emporen) wird die Stromversorgung der Reichel-Orgel abgeklemmt, das Werk ist nicht spielbar und eingehaust.
2022 nach Bauarbeiten im Ostteil der Kirche ist das Instrument wieder spielbar, bedarf aber einer Reinigung.
Die im Osten der Kirche vor dem großen Lünettengemälde befindliche kleine Orgel in der Marktkirche zu Halle ist die älteste und vermutlich ohne Einschränkungen wertvollste Orgel der Stadt und eines der wertvollsten Instrumente der Region. Dankenswerterweise erfuhr sie durch die Jahrhunderte hinweg Wertschätzung oder ignorantes Desinteresse, sodass das Werk in wesentlichen Zügen erhalten blieb und durch die Werkstatt Schuke in hervorragender Art und Weise rekonstruiert werden konnte.
Das Positiv wurde von Georg Reichel erbaut, der seit 1655 hallescher Bürger und seit 1656 auch Orgelrevisor von St. Marien, also der Marktkirche, war. Obgleich Reichel als Orgelbauer nicht untätig war, ist das kleine Werk in der Marktkirche das einzige Zeugnis seines Lebens und Wirkens. Namhafte Organisten wie Friedrich Wilhelm Zachow wirkten an diesem Instrument, vermutlich spielte auch der junge Georg Friedrich Händel die kleine Orgel unter Aufsicht und Unterweisung seines Lehrers Zachow. Ob Bach das kleine Werk im Rahmen seiner Orgelprobe der großen Westorgel 1716 auch spielte, ist unbekannt, aber möglich.
Schon der Prospekt lässt vermuten, dass die Orgel ein Repräsentationsobjekt, heute würde man auch „Prestigeprojekt“ sagen, war. Die Schaufront des Gehäuses, welches mit seiner geringen Tiefe etwa die Maße eines großen Kleiderschrankes aufweist, zeigt in der Mitte einen Spitzturm, daneben seitliche flache Harfenfelder. Vergoldete Weinlaubsäulen umrahmen die Pfeifenfelder. Auch der Rest des Prospektes ist mit massivem und hochwertigem Schnitzwerk in Form von Knorpelwerk, Schleierbrettern, Wappen verziert. Im Gesims unter den Pfeifenfeldern ist die Jungfrau Maria (also die Kirchenpatronin) mit Kind zu sehen. Über dem Mittelturm ist ein geflügelter Engelskopf angebracht. Der Prospekt ist farblich bunt gefasst und reich vergoldet, fügt sich damit gut in die hellen, vergoldeten Emporen ein und besitzt eine bemerkenswerte Eleganz, obgleich sein Grundriss ein schlichtes Rechteck ist.
Das Instrument ist hinterspielig. Links und rechts des Notenpultes befinden sich die sechs Registerzüge, weitere Spielhilfen sind nicht vorhanden. Die Klaviatur besteht aus hellem Holz für die Untertasten und dunklen Holztasten mit Ebenholzbelägen für die Obertasten. Die Anordnung der Registerzüge ist durchaus intuitiv – die starken Principalstimmen 4′, 2′ und 1′ sind allesamt rechts angeordnet, das Grundregister Gedackt 8′ nebst zwei Farbstimmen (Spillflöte und Sesqialtera) dagegen links.
Ein kleines Schleudergebläse befindet sich nebst eines kleinen Balges im Untergehäuse der Orgel. Die Ansteuerung der diatonisch geteilten Schleiflade erfolgt über eine Stechermechanik mit Wellenbrett, sodass die Spielart eine überaus Leichte, fast pianistische ist.
Die Disposition zeigt sich auf den ersten Blick etwas „klein“ für den Raum, dies wird aber dadurch negiert, dass die Register so vielfältig mischbar sind, dass hier kaum eine Ermüdung eintreten dürfte.
Grundiert wird der Klang durch ein sehr fülliges, etwas hohles und schnell ansprechendes Gedackt 8′, welches auch im Baßbereich eine überraschend große Präsenz und Durchsichtigkeit besitzt. Darauf baut sich die Principalpyramide auf. Principal 4′ ist sehr frisch und hell, strahlend und zugleich singend und cantabel, Octave 2′ glanzvoll und edel strahlend, Octava 1′ dagegen glitzernd, flirrend und etwas spitz, ohne aufdringlich oder schrill zu werden. Der geneigte Leser mag überrascht sein, dass die Kombination 8′-1′ tatsächlich funktioniert und klingt – der Autor kann aus eigener konzertanter Erfahrung bestätigen, dass dem tatsächlich so ist! Eine sanfte, perlende und runde, leicht spuckende Flöte 4′ bringt etwas Farbe, die Sesquialtera 2fach herbe, fast schon scharfe, bunte Kraft und im Baß Gravität und Fülle. Die Mischungen sind so vielfältig, dass der Autor sich hier auf die Wiedergabe einiger besonders angenehmer beschränkt: 8′-2′, 8′-Flöte 4′, Flöte 4 allein, Principal 4′ allein, 8′-4′-2′, 8′-Sesquialtera… Die Klänge sind nicht zu beschreiben, sie müssen im Raum erlebt werden!
Die Farbigkeit wird durch die prätorianische, also stark ungleichstufige Stimmung und die Tatsache, dass das Werk etwa eine kleine Terz (!) höher gestimmt ist, verstärkt. Obgleich die einzelnen Stimmen für den Spieler nicht forciert oder schrill auftreten, so füllt die Orgel erstaunlicherweise mit wenigen Stimmen den Raum präsent, transparent und sehr lebendig aus! Die historischen Klänge zu erleben, in das gotische Netzgewölbe blickend, dies hat einen erhabenen und ergreifenden Charakter!
Der Zustand ist überaus gut, auch die letzten sehr heißen Sommer haben der kleinen Orgel und ihrem Zauber keinen Abbruch tun können. Zu beachten für den Spieler ist die räumliche Kompaktheit der Spielanlage, die engen Tastenmensuren und vor allem die Stimmung. Wer sich darauf einlässt, findet hier eines der farbigsten und bemerkenswertesten Orgelwerke Mitteldeutschlands vor, an denen man stundenlang spielen und sich der puren Freude hingeben kann. So erfüllt das Werk, was der Prospekt verheißt – ein glanzvolles SOLI DEO GLORIA!
Disposition
Manual C,D – c“‘GrobGedackt 8′ Principal 4′ Spillflöte 4′ Octava 2′ SuperOctav 1′ Sesquialtera 2f (ohne Rep., 1 3/5’+1 1/3′) |
Spielhilfen
keine Spielhilfen vorhanden
Gebäude oder Kirchengeschichte
Im 13. Jahrhundert standen am Marktplatz bzw. Hallmarkt zwei Kirchen – St. Gertruden (westlich) und St. Marien (östlich).
Um 1320 Guss der „Bittglocke“ in Zuckerhutform, Nominal ~c“‘ durch einen unbekannten Gießer.
24. Juni 1423 Guss der heutigen „Großen Festtagsglocke“ durch einen unbekannten Gießer, Nominal cis‘, Gewicht ca. 4000kg.
1507 – 1513 Aufsatz der Turmhelme.
1529 – 1554 Neubau einer spätgotischen Hallenkirche zwischen den Turmpaaren der beiden alten Kirchen. Baumaterial aus den alten Gebäuden wurden dabei weiter verwendet – es handelt sich dabei um die letzte große Kirche der obersächsischen Gotik, welche nach Plänen von Ratsbaumeister Caspar Krafft und Nickel Hoffmann erbaut wurde.
1550 – 1554 Einbau der Emporen.
1551 erhalten die Hausmannstürme welsche Hauben.
1561 – 1595 Entstehung des Eichenholz-Gestühls und des Brautgestühls.
1674 Guss zweier neuer Glocken (Nominale a°, eis‘) durch Jacob Wenzel [auch: Wentzel] als Ersatz u.a. für die gesprungene „Osanna“, welche ca. 185cm Durchmesser aufwies.
1698 Zufügung eines weiteren Emporengeschosses – im Wesentlichen blieb der Raum unangetastet.
1840 – 1841 Umgestaltung des Altarplatzes durch Karl Friedrich Schinkel (Berlin) und August Stapel (Dresden) – es entsteht ein neues Altarblatt von Julius Hübner (Loschwitz).
1945 schwere Beschädigung der Kirche durch einen Bombentreffer ins Dach und durch Artilleriebeschuss – u.a. Teileinsturz der Decke.
1946 – 1948 Reparatur der Schäden.
1956 Rückführung des Marienretabels von Cranach an die ursprüngliche Position.
1967 beschädigte eine geplatzte Fernwärmeleitung den größten Teil der Innenausstattung schwer und gravierend.
1976 Entstehung eines Kruzifixes aus schwarzem Eisen von Johann-Peter Hinz (Halberstadt).
1968 – 1983 Generalsanierung der Kirche als eines der letzten großen Projekte der DDR auf diesem Gebiet. Dabei wird der Zustand des 16. Jahrhunderts weitestgehend wiederhergestellt.
2009 Sanierung des Glockenstuhls, Einbau einer neuen Glockensteuerung und neuer Klöppel.
Die Kirche präsentiert sich heute als heller, weiträumiger, dreischiffiger Hallenbau, der von einem gotischen Netz- und Sterngewölbe überspannt wird. Im Inneren das mit dezentem Maßwerk versehene hohe Spitzbogenfenster. Es finden sich diverse hochrangige Kunstschätze, u.a. der Hochaltar (1539) von Lukas Cranach der Ältere und seinem Schüler Simon Franck, welcher eine Mariendarstellung zeigt. Oberhalb dieses Altars findet sich ein bemerkenswertes, in geschnitztes Holz gefasstes Lünettengemälde (1593), welches Szenen aus der Apostelgeschichte zeigt und 1593 vom Mahler Heinrich Lichtenfels geschaffen wurde. Weiterhin bemerkenswert sind die Kanzel von 1541 von Nickel Hoffmann mit Schalldeckel von 1596 (Schnitzer Heinrich Heidenreitter und Maler Heinrich Lichtenfelser), sowie das aus Bronze gegossene und mit Heiligenfiguren verzierte Taufbecken von 1430 – geschaffen von Ludolf von Braunschweig. Die einheitliche Durchgestaltung des Innenraums lässt die Marktkirche zu einem der bedeutendsten und einheitlichsten Räume der deutschen Spätgotik werden. Ab 2021 wird das Bauwerk in mehreren Abschnitten umfassend saniert und erneuert.
Anfahrt
Quellenangaben
Orgelbeitrag erstellt von: Johannes Richter
Dateien Bilder Kirche und Orgel: Johannes Richter
Orgelgeschichte: Johannes Richter, Sichtung vor Ort, sowie mündliche Informationen von K.B. und Marktkirchenorganist KMD Irenée Peyrot
Kirchengeschichte: Wikipedia basierend u.a. auf
Peggy Grötschel; Matthias Behne: Die Kirchen der Stadt Halle. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2006, ISBN 3-89812-352-9.
Holger Brülls; Thomas Dietsch: Architekturführer Halle an der Saale. Dietrich Reimer, Berlin 2000, ISBN 3-496-01202-1.
Achim Todenhöfer: Steinernes Gotteslob. Die mittelalterlichen Kirchen der Stadt Halle. In: Geschichte der Stadt Halle, Bd. 1, Halle im Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2006, ISBN 978-3-89812-512-3, S. 207–226.
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Webauftritt der Marktkirchenmusik